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Von der entfremdeten Arbeit zur schöpferischen Praxis
Ernest Mandel - Internet-Archiv
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Der Beitrag von Ernest Mandel ist ein Auszug aus dem Kapitel »Grenzen des Menschen?« der Marxistischen Wirtschaftstheorie (1962 im französischen Original, 1968 auf deutsch erschienen). Zum 10.Todestag erscheint dieser Tage im Neuen ISP Verlag ein Reprint des dicken Klassikers.

Das Ziel des Sozialismus kann nicht die Vermenschlichung der Arbeit sein, genauso wenig wie sein Ziel die Verbesserung der Löhne oder die Besserstellung der Arbeiterklasse sein kann. Das alles sind nur Übergangsstufen, Notbehelfe, Halbheiten. Eine moderne Fabrik stellt niemals eine »normale« oder »humane« Umgebung für den Menschen dar, mag die Arbeitszeit auch noch so herabgesetzt, mögen die Räume und die Maschinen noch so sehr den Bedürfnissen des Menschen angepasst werden. Der Prozess der Vermenschlichung des Menschen wird erst vollendet sein, wenn die Arbeit abgestorben ist und der schöpferischen Praxis Platz gemacht hat, die einzig darauf ausgerichtet ist, universell entwickelte Menschen hervorzubringen.

Lange Zeit wurde der homo faber, der Werkzeuge produzierende Mensch, als der wirkliche Schöpfer der Zivilisation und der menschlichen Kultur angesehen. Der holländische Historiker Huizinga dagegen hat ohne Bedenken einen dieser Tradition entgegengesetzten Weg eingeschlagen, als er im homo ludens, im spielenden Menschen, den wahren Schöpfer der Kultur sah.

Der Marxismus, der durch die gesamte gegenwärtige Anthropologie und zum Großteil auch durch die freudsche Psychologie eine glänzende Bestätigung erfahren hat, erlaubt es, diese beiden Auffassungen, die zwei grundlegende Aspekte der Menschheitsgeschichte widerspiegeln, zu vereinen. Ursprünglich war der Mensch homo faber und homo ludens zugleich. Der homo faber hat weder die nötigen Hilfsquellen noch die Muße zum Spiel, zur freien Schöpfung und zur spontanen, uneigennützigen Anwendung seiner Fähigkeit, also zu dem, was gerade das Merkmal der menschlichen Praxis ist. Der homo ludens dagegen wird immer mehr durch die privilegierten, d.h. die besitzenden und die von diesen unterhaltenden Klassen verkörpert. Aus eben diesem Grund wird er zum Opfer einer besonderen Entfremdung. Sein Spiel verwandelt sich immer mehr und mehr in ein trauriges Spiel und bleibt dies selbst in den großen Jahrhunderten des gesellschaftlichen Optimismus (bspw. dem 16. und dem 19.Jahrhundert). Vom Zwang der Routinearbeit befreit und zurückgekehrt in den Schoß der Gemeinschaft, wird der sozialistische Mensch wieder zum homo faber und zum homo ludens zugleich. Er verwandelt sich zunehmend in den homo ludens, doch ist er gleichzeitig auch homo faber. Bereits heute bemüht man sich, in bestimmte Arbeiten ein Moment des »Spiels«, ins Spiel aber ein Moment »ernsthafter Arbeit« einzuführen. Die Abschaffung der Arbeit im traditionellen Sinn des Wortes bedeutet gleichzeitig einen neuen Aufschwung der wichtigsten Produktivkraft: der schöpferischen Kraft des Menschen. Die materielle Uneigennützigkeit wird durch eine schöpferische Spontaneität gekrönt, in der sich das Spiel des Kindes, der Elan des Künstlers und das Heureka des Gelehrten vereinen.

Für die Bourgeoisie ist Besitz gleichbedeutend mit Freiheit. In einer »atomistischen« Gesellschaft von Warenbesitzern ist diese Definition auch weitgehend richtig. Allein der (ausreichende) Besitz befreit die Individuen von dem Zwang, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können, von der Verdammung zur Zwangsarbeit. Aus diesem Grund setzen sich sowohl bürgerliche Philanthropen als auch Demagogen für das Hirngespinst der »Entproletarisierung« durch »Eigentumsstreuung« ein.

Vulgärmarxisten haben einen berühmten, auch von Engels aufgegriffenen Satz Hegels, demzufolge Freiheit »Einsicht in die Notwendigkeit« ist, aus seinem Zusammenhang gerissen und in einem Sinne interpretiert, dass der sozialistische Mensch genau den gleichen »ehernen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten« ausgesetzt sei wie der Mensch im Kapitalismus — mit dem einzigen Unterschied, dass sich der sozialistische Mensch dieser Gesetze bewusst sei und versuche, sie »zu seinen Gunsten auszunützen«. Diese positivistische Variante des Marxismus hat nichts gemein mit der wirklichen humanistischen Tradition von Marx und Engels, mit der Kühnheit ihrer Analyse und der Tiefe ihres in die Zukunft gerichteten Blicks. Marx und Engels haben mehr als einmal wiederholt, dass das Reich der Freiheit dort beginnt, wo das der Notwendigkeit endet. Selbst in der sozialistischen Gesellschaft bleibt die Fabrikarbeit eine traurige Notwendigkeit; die wirkliche Freiheit entfaltet sich nur in den Mußestunden. In dem Maße, wie die Arbeit im traditionellen Sinn des Wortes abstirbt, wird sie durch eine schöpferische Praxis universell entwickelter und gesellschaftlich integrierter Persönlichkeiten ersetzt. Je mehr sich der Mensch von seinen Bedürfnissen befreit, indem er sie befriedigt, desto mehr »weicht das Reich der Notwendigkeit dem Reich der Freiheit«.

Die menschliche Freiheit ist weder ein »freiwillig gutgeheißener« Zwang noch die Summe instinktiver und schrankenloser Handlungen, die das Individuum erniedrigen würden. Sie ist die Selbstverwirklichung des Menschen, die nichts anderes darstellt als ein ewiges Werden und Vergehen, eine fortwährende Bereicherung all dessen, was menschlich ist, eine universelle Entwicklung aller menschlichen Fähigkeiten und Anlagen. Sie ist weder die absolute Ruhe noch das »vollkommene Glück«; sie ist vielmehr, nach Jahrtausenden menschenunwürdiger Konflikte, der Beginn des wirklichen »menschlichen Dramas«. Sie ist eine Hymne zum Ruhme des Menschen, gesungen von Menschen, die sich ihrer Grenzen bewusst sind und aus diesem Bewusstsein den Mut schöpfen, sie zu überwinden.

 

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